Szenen meines Lebens VI

„Wie kannst du eigentlich?“  In der Stimme des Kollegen schwang ein Unterton mit, der zwischen aufrichtiger Empörung und ehrlichem Unverständnis hin und her pendelte. „Du bist doch sonst so für die Kleinen.“

Mit den Kleinen meinte der hochgeschätzte Kollege nicht die einstmals von Berti Vogts so titulierten Länderauswahlen schwächerer Nation, sondern den FC St. Pauli. Und natürlich auch den 1. FC Wundervoll, von dem hier ab und zu schon mal die Rede war.

Mit letzterem beschäftige ich mich ja seit ein paar Jahren. Genauer gesagt seit etwas mehr als einer Dekade. Und wenn man da so tut – und bei mir ist das ja auch hauptberuflich der Fall – bleiben dir nur zwei Möglichkeiten offen: Du hasst ihn. Oder du fängst an, dich zu verlieben. Und zwar so, wie es Altmeister Nick Hornby einst formulierte: „Ich verliebte mich in den Fußball, wie ich mich später in Frauen verlieben sollte: Plötzlich, unerklärlich, unkritisch und ohne einen Gedanken an den Schmerz und die Zerrissenheit zu verschwenden, die damit verbunden sein würden.“

Aber dies heute ist ja nicht eine Geschichte über den 1. FC Wundervoll. Sondern es geht um was anderes. Um jemanden ganz anderen. Um den FC Bayern München. Ja, ich bin Bayern-Fan. Doch das kommt nicht von ungefähr.  Ich wurde plötzlich und unvermittelt zum Fan des (heuitigen) deutschen Rekordmeisters. Ich verliebte mich ohne Vorwarnung in meiner Jugend unbeschwerten Tage. Und sollte damals nicht ahnen, dass eine Menge Schmerz auf mich zukam. Ja, richtig gelesen. Schmerz! Plötzlich, unerklärlich, unkritisch und ohne einen Gedanken. Denn ich, und damit schließt sich der Kreis zu den Kleinen, bin ein Misserfolgsfan. Ein Misserfolgsfan des FC Bayern. Geht nicht, sagen sie? Und ob das geht!

Denn meine erste bewusste Wahrnehmung des deutschen Vorzeigeklubs war unschön. Mein Altvorderer war ob seiner Jugendzeit und des mehrfach genossenen Anblickes der Herren Seeler (Uwe und Dieter), der Dörfels & Co. HSV-Fan geworden. Ich sympathisierte mehr mit St. Pauli. Was weniger einer Kenntnis des Kicks noch kindischem Trotz geschuldet war, als vielmehr der Freundschaft zu einem im nahen Hamburg lebenden, ein Jahr älteren Freund. Der Michi spielte damals nämlich in der Jugend des Kiezklubs. Und ich, voller Bewunderung für den Älteren und am Ball so Geschickten, war Feuer und Flamme für die Jungs vom Millerntor.

Doch dann eines Tages, so kurz nach der WM 1974, die ich eher so semi-mäßg mitverfolgt hatte (ich weiß bis heute nicht, ob ich das Finale wirklich am Fernseher gesehen habe oder nicht), saß ich nach dem samstäglichen Bade mit meinem Vater vor der Sportschau. Es störte noch kein „Guten Nabend allerseits“, der pure Ball rollte kompakt über die Mattscheibe. Und ich verfolgte fassungslos das Ergebnis des ersten Spieltages: Es lautete Kickers Ofenbach 6, der Gegner 0! Mitleid erfasste mich mit diesem Team, das da eben so brutal verprügelt worden war. Was wusste ich schon von Schäfers Winnie, von Siggi, „dem“ Held-igen, oder gar Erwin Kostedde, der der erste dunkelhäutige deutsche Nationalspielerwerden sollte. Ich hielt ehrlichen Herzens zu den Unterlegenen. Zu dem Klub, von dem ich noch wochenlang im Brustton der Überzeugung sagen würde, es wäre der FC Bayern Mönchengladbach gewesen, der da so eine Abreibung verpasst bekommen hatte.

Dass der FC ruhmreich zu München gerade einen Dreifachtriumph in der Bundesliga hinter sich hatte, dass er als erster deutscher Klub den EC I – aka Europapokal der Landesmeister – nach Deutschland geholt hatte, war mir unbekannt. Dass sie ihn sich im Laufe der Spielzeit 74/75 noch ein weiteres Mal sichern würden, bekam ich kaum mit. Mein ehrenwerter alter Herr, ein preußisch-korrekter Beamter, stopfte mich des Abends immer zeitig ins Bett. Und so bekam ich die Spiele – so sie denn überhaupt im TV zu bewundern – nicht wirklich mit.

Ich war aber begeistert vom Fußball, übte ihn all jener Leidenschaft aus, zu der ein unbedarfter 8-Jähriger halt fähig war. Ich war viel zu klein für die allzu kräftige dörfliche Landjugend, technisch unbegabt und zu ungeduldig. Kurz ich konnte nicht kicken. So wurde ich – welch Schmach – beim Spiel mit den Straßenjungs immer als Letzter gewählt (wofür ich aber immer live den Radiokommentator geben musste. Darauf bestanden sie alle. Und es war vielleicht schon ein Fingerzeig für meinen späteren Berufswerdegang. Wenn ich nicht draußen voller Inbrunst dem runden Leder nachkommentierte, spielte ich mit meinem Subboteo ganze Meisterschaften nach. Ich bastelte Tabellen und füllte sie freudvoll und mit einer Akribie aus, derer mein Klavierlehrer froh gewesen wäre. Und was für tolle Mannschaften tobten bei mir durch die Bundesliga. Tennis Borussia Berlin, RW Oberhausen. Der Wuppertaler SV. Ja sogar  Barmbek-Uhlenhorst! (Dass ich mit denen später noch mal eine Begegnung im RL haben sollte, ist eine andere Geschichte und soll ein ander Mal erzählt werden). Und natürlich spielte auch der FC Bayern mit. Muss noch erwähnt werden, dass er die zahlreichen Schlachten stets für sich entscheiden konnte? Mit so realitätsnahem Ergebnissen wie 7:4, 9:1 oder 3:2. Nach 0:2-Rückstand versteht sich.

Und dies ganz im Gegensatz zu den realen Münchnern. Die dümpelten in der Liga vor sich hin, lagen zur Halbserie kurz vor einem Abstiegsplatz. Es war wahrlich kein Vergnügen, den Kicker zu studieren, um den ich mich, kaum aus der Schule nach Hause geeilt, zwei Mal die Woche mit meinem Altvorderen balgte, wer ihn denn zuerst lesen dürfte. Mein Herr Vater gewann meist. Und sei es mit dem Argument, er hätte ihn schließlich bezahlt.

Nun ja. Konnte ich nix gegen vorbringen. Ich saugte die Informationen halt etwas später auf. Egal wie unschön sie sich auch darstellen mochten. Und davon gab es anno 74/75 viele. Es ging ein späterer Altmeister, der heute beim DSF seinen Rotwein verdient, es kam ein Napoleon.

Was nicht kam, war der Erfolg. Kein Trost für meine Tränen. Rang 10 zum Abschluss, alles andere als ein Ruhmesblatt. Dass dieser Tiefpunkt drei Spielzeiten später noch locker zu unterbieten war, hielt mich nicht davon ab, dem Klub weiter die Treue zu halten. Mir doch egal, wenn all die anderen Jungs von den Mönchengladbachern schwärmten, deren Vorname, das wusste ich jetzt dann doch, Borussia lautete und nicht Bayern.

Ich liebte und ich litt. Lange, lange Jahre. Der Kaiser flüchtete nach New York. Der Uli Hoeneß bekam seine Knie nicht mehr in Ordnung und nebenbei eine Glatze. Gerd Müller trank lieber bei den Fort Lauderdale Strikers. Eine gewisse Rummelfliege trieb ihr Unwesen und ward noch nicht zu dem Stürmer gereift, der ihn zu zwei Vizeweltmeisterehren führen sollte. Peinliche Pokalpleiten zu Hause gegen Osnabrück (4:5 am 23.09.1978) erschütterten mich nicht. Ich blieb im Glauben fest.

Und wurde dann doch endlich, endlich belohnt. 1980 war es dann soweit. Nach sechs Jahren der Titelabstinenz ging die Salatschüssel endlich mal wieder nach München. Meine schier ewig andauernde Leidenszeit war vorbei. Sechs Jahre waren für einen kleinen Jungen, der den Klub und das Spiel liebte, eine verdammt lange Zeit.

Da habt ihr es also. Ich bin ein Bayern-Fan. Bis heute. Aus tiefster Überzeugung. Aber geboren wurde ich im Kummer, lange wandelnd am Rande des Abgrunds. Und stets übergossen mit dem Spott derer, die den Fohlen huldigten oder es „nordisch by nature“ mit dem HSV und Kevin Keagen hatten.