Der stille Vorwurf

„Da bist du ja endlich.“ Der klassische Eröffnungssatz meines lieben Großtantchens, wenn ich mich dazu malm überwinde, sie anzurufen. Endlich, als ob sie ständig anruft. Zudem schwingt ja der Vorwurf nicht ganz zu unrecht mit drin, dass ich mich zu wenig melde (Vom Vorbeikommen wollen wir gar nicht erst anfangen …) Jedenfalls schafft sie es in 95% aller Fälle sich so zu melden.

Nun gut, Tantine ist zarte 87, nicht mehr ganz beweglich (zu ihrem großen Bedauern) aber hellwach im Kopf. Und ich, ich bin nun mal nicht der Typ, der ständig gerne quer durch unsere geliebte Republik klingelt.

Was soll ich denn auch groß erzählen? Es ändert sich ja doch nichts in meinem Leben. Und wenn nur zum Negativen. Was sie ohnehin schon weiß. Wer von meinen Cousins welche Frau über das Internet kennengelernt hat, finde ich da auch nicht so megaspannend …

Soll ich ihr jetzt die Tage vorzählen, seit denen ich widerwillig das Heer der Großstatdsingles vermehrt habe? Sind genau 99.

Und der Rest meiner Tage dreht sich nur um aufstehen, anziehen, losgehen und vermissen. Dazu noch funktionieren im Job. Sehr spannend. (Vorsicht, das war jetzt Ironie).

Und meinen Job, nun zudem hat sie als Antisportler keinen Zugang. Sie ist ein großer Verfechter der These, dass man jedem der 22 Kicker auf dem Rasen doch bitteschön einen eigenen Ball geben solle. Dann müssten sie sich nicht um den einen streiten …

Kann also – neben altbekannten Thesen zu meinen Eltern und ihrem nahezu in Stein gemeißeltem Satz, dass meine Mutter endlich mit dem Rauchen aufhören müsse (was stimmt, aber ich nicht ändern kann)-höchstens in ein allgemeines Lamentieren über den eiskalten Manchester-Liberalismus der die heutige Weltwirtschaft dominiert ausarten. Das sieht sie zwar ähnlich, kann es ja aber auch nicht ändern und ist zu ihrem großen Glück den Auswirkungen auch nicht mehr unterworfen.

Kurz und gut, ich telefoniere nicht so gerne. Und habe trotzdem dabei ein schlechtes Gewissen.