Es war so etwas wie der Running Gag des Sommers. Wen man auch traf, egal wo. Man raunte es sich zu. Unaufgefordert. Es musste, aber sein. „Da fehlt ein Stern“, verkündete man mit einem schelmischen Grinsen, als gehöre man einer geheimen Sekte an. Der andere nickte. Anerkennend. Amüsiert. Wissend, dass das ja nicht anders ging. Denn so sehr die Marketender der Weltfirma auf Zack sind, das hatte keine Maschinerie der Welt leisten können.
Und so stolzierten wir in unseren Dreistern-Trikots durch die Straßen. Lustwandelten an den Ostseestränden und wisperten allen anderen gar nicht so geheimen Geheimnisträgern ein ums andere Mal fröhlich die Parole zu: „Da fehlt ein Stern.“
Was ein Sommer. Vielleicht nicht der von Gundermann besungene „zweitbeste„. Aber immer einer, der nicht so schnell in Vergessenheit geraten würde.
Sicher, die strahlende Jahreszeit hatte auch all das wider hervorgebracht, auf das ich getrost verzichten kann. Wespen! Flip-Flops im Straßenbild und nicht nur in Sanddünen. Lackierte Fußnägel in einer Vielzahl. als gelte es dadurch die Welt zu retten. Und Barfußgänger in einer dreckigen Großstadt. Wir wollen nicht die Barfußgänger vergessen.
An und für sich ist gegen so textilfreies Endbein gar nicht so viel einzuwenden. Es hilft sogar gewissen, wenig wohlfeilen Gerüchen vorzubauen. Aber baren Fußes doch bitte schön dort, wo es sich gut anfühlt. In feuchtem Gras, auf dem sich der Morgentau gegen seine bevorstehende Verdunstung wehrt. Oder im manchmal viel zu heißen Ostseesand. Aber nicht in vergotteten, mit Glasscherben und sonstigem Unrat übersäten Asphaltdschungel.
Es war der Sommer, an dem ein schon in die Jahre gekommener Song der Sportfreunde Stiller endgültig zu Grabe getragen wurde. Sie wissen schon: das unsägliche 54 – 74 – 90 – 2006, das wenig später um vier Jahre erweitert werden musste. Nun war es endgültig Zeit, sich davon zu verabschieden. Nicht mal, weil eine zeitgemäß adaptierte Version sich phonetisch nicht gut angehört hätte. Sondern weil dem einstmals Gassenhauer schlicht und einfach die Grundlage entzogen worden war.
Den er fehlte ja nicht mehr. Wir hatten ihn – den viel besungenen vierten Stern. Geholt im fernen Brasilien.Bewundert und bejubelt auch hier in Berlin. Stehend mit der Bunkine auf dem Sofa im WM-Wohnzimmer. Singend. Hoffend. Fluchend.
Manchmal staunend. War das möglich? War das echt Brasilien? Ich saß in Kärnten und starrte ungläubig den Bildschirm in einer Pizzeria an, während die Bunkine zu Hause um den Laptop tanzte. „Das muss man erlebt haben. Das glaubt einem keiner“ schickte sie mir via Facebook. Und hatte Recht. Aber so was von.
Wir wurden mitgerissen auf einer Woge der Begeisterung. Auf einer Welle der Euphorie. Nicht mal mein durchnässtes Beinkleid beim Finale – ja, es hatte mal wieder geregnet und die Plane über dem Sofa hatte sich gegen das Abdecken zu wehren versucht – konnte einen erschüttern. Obwohl es im ersten Moment sich leicht frostig anfühlte. Zumindest unterkühlt.
Doch bei dieser Sternstunde der Fanscheit war uns alles gleich. Wir saßen nur da, drückten die Daumen, kauten an den Fingernägeln. Und harrten der Dinge, die da kommen mögen. Sicher, die anderen hatten Messi. Doch wir waren der festen Überzeugung, dass wir Zeugen eines historischen Ereignisses werden würden. Das hatte sich eingebrannt durch das unauslöschliche 7:1 gegen die Gastgeber. Heute konnte nicht schiefgehen. Wir waren das bessere Team. Wir hatten den besten Fußball geboten. Es würde so was von verdient sein. Wir saßen da mit einer Hingabe, wie wir sie vielleicht sonst nur einem Fünf-Gänge-Menü in beschaulichem Ambiente aus den Händen eines Sternekochs entgegengebracht hätten.
Tage wie diese, summte automatisch durch mein Hirn. Gepaart mit Fetzen einer einstmals auf Helgoland verfassten Hymne. Und dann war es endlich soweit. Ein Götzendienst brachte uns den Moment. Der Stern war da. Und mit ihm der Running Gag des Sommers – „Da fehlt ein Stern“.